Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans: einige klärende Worte des OVG

Die Diskussion um die Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen des Baunutzungsplans für Berlin ist durch zwei Urteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg um einige wesentliche Aspekte reicher geworden. Zahlreiche Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin hatten zuvor einzelne Festsetzungen des Baunutzungsplans, der im ehemaligen Westteil Berlins als übergeleiteter Bebauungsplan fortgilt, als funktionslos und damit als unwirksam erachtet. Sie sind nun in einem neuen Licht zu betrachten.

Die jetzt ergangenen Berufungsurteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg betreffen Dachgeschossausbauten in Neukölln, die zu einer Überschreitung der im Baunutzungsplan festgesetzten Grundflächenzahl (GRZ) und Geschossflächenzahl (GFZ) führen sollten. Die gegen die Ablehnung der dahingehenden Befreiungsanträge gerichteten Klagen der Bauherren hatten vor dem Verwaltungsgericht Berlin zunächst Erfolg. Die hiergegen gerichtete Berufung des Bezirksamtes blieb in einem Fall erfolglos; im anderen Fall änderte das Oberverwaltungsgericht die erstinstanzliche Entscheidung und wies die Klage teilweise ab. Der Urteilsbegründung lassen sich folgende Kernaussagen entnehmen:

Für die Frage, ob Festsetzungen des Baunutzungsplans funktionslos geworden sind, ist die jeweilige Festsetzung isoliert zu betrachten. Insbesondere sind die Festsetzungen von GRZ und GFZ nicht dergestalt miteinander verbunden, dass die Funktionslosigkeit der einen Maßfestsetzung zwingend die Funktionslosigkeit der anderen nach sich zöge. Einen einheitlichen Festsetzungsverbund konnte das Oberverwaltungsgericht vielmehr anders als noch zuvor das Verwaltungsgericht Berlin weder den Bestimmungen der BO 58 noch den Festsetzungen des Baunutzungsplans entnehmen.

Ob eine einzelne Festsetzung des Baunutzungsplans funktionslos geworden ist, beurteilt sich nach den allgemein für die Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen anerkannten Kriterien. Maßgeblich dafür ist, dass die Verhältnisse, auf die sich die jeweilige Festsetzung bezieht, ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließen und dass diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Entgegen der früheren Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin ist in räumlicher Hinsicht dabei jedoch nicht lediglich der einzelne Baublock in den Blick zu nehmen. Entscheidend ist vielmehr grds. die jeweilige Festsetzung in ihrer gesamten Reichweite und in ihrer Bedeutung für den Plan in seiner Gesamtheit. Dafür soll jedoch nach der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts nicht etwa das gesamte Plangebiet des Baunutzungsplans zu berücksichtigen sein. Zu betrachten seien vielmehr lediglich die Flächen der jeweiligen Baustufe V/3 und innerhalb derer alle Flächen des jeweiligen Gebietstyps.

Innerhalb der so bestimmten Fläche hält das Oberverwaltungsgericht eine wertende Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls für geboten. In den hier entschiedenen Fällen führte diee dazu, dass das Oberverwaltungsgericht die GFZ-Festsetzung auf den Baugrundstücken für funktionslos hielt, die GRZ-Festsetzung hingegen nicht. Für die Funktionslosigkeit der GFZ-Festsetzung sprachen nach der Auffassung des Gerichts eine hohe Anzahl von Bauvorhaben, die nach dem Inkrafttreten des Baunutzungsplans verwirklicht wurden und die zu einer weiteren Überschreitung der festgesetzten GFZ führten. Hinsichtlich der GRZ konnte das Gericht hingegen eine solche Entwicklung nicht feststellen. Städtebauliche Leitlinien des Bezirks, die an sich eine Nachverdichtung ermöglichen, sowie der Schutz des Gebäudebestandes durch eine Erhaltungsverordnung können die Funktionslosigkeit nach der Auffassung des Gerichts allein nicht begründen.

Die Entscheidung enthält wichtige Aussagen für den künftigen Umgang mit den Festsetzungen des Baunutzungsplans. Die bisherige fragmentierte Betrachtungsweise, bei der lediglich das jeweilige Straßengeviert in den Blick zu nehmen war, gehört damit der Vergangenheit an. Dies wird zu einer gewissen Vereinheitlichung der Situation führen, da in Zukunft damit zu rechnen ist, dass die Funktionslosigkeit für größere Flächen insgesamt bejaht oder verneint werden kann. Die mit dem Baunutzungsplan verbundenen grundsätzlichen Schwierigkeiten bleiben jedoch erhalten: Überkommene städtebauliche Vorstellungen sind weiterhin geltendes Recht, und durch die uneinheitliche Befreiungspraxis der Bezirksämter und die stets einzelfallbezogenen Entscheidungen über die Funktionslosigkeit bestimmter Festsetzungen herrscht ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit. Grundstückseigentümer müssen vielfach weiterhin die Gerichte bemühen, um Klarheit darüber zu erlangen, wie sie ihr jeweiliges Grundstück nutzen können.

OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 15. September 2020, OVG 2 B 10.17, OVG 2 B 11.17

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