BGH: Konkurrenten haben einen Anspruch auf Durchführung der Auskömmlichkeitsprüfung

Das Land Berlin, vertreten durch die Berliner Feuerwehr, beabsichtigte die Vergabe der Gestellung von Notärzten in einer beschränkten Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb. Eine Bieterin beteiligte sich an dem Verfahren mit einem Angebot. Nachdem die Vergabestelle sie darüber unterrichtet hatte, daß das Angebot einer Konkurrentin den Zuschlag erhalten soll, stellte die Bieterin hiergegen einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Berlin und machte u. a. geltend, daß das Angebot der vorgesehenen Zuschlagsempfängerin ungewöhnlich niedrig sei und deshalb ausgeschlossen werden müsse. Nachdem der Nachprüfungsantrag vor der Vergabekammer keinen Erfolg hatte, legte die Antragstellerin sofortige Beschwerde zum Kammergericht ein. Da der Zuschlag zwischenzeitlich erteilt worden war, beantragte sie nur noch die Feststellung, in ihren Rechten verletzt zu sein. Das Kammergericht legte die Sache auf Grund einer beabsichtigten Abweichung von einem Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vor.

Der Bundesgerichtshof hatte sich zuerst mit der die Divergenz begründenden Frage zu befassen, ob die Vorschriften über die vergaberechtliche Preisprüfung, insbesondere § 16 Abs. 6 VOL/A 2009, der dem heutigen § 60 VgV entspricht, den Konkurrenten des betroffenen Bieters einen Anspruch auf Durchführung der Prüfung gewähren. In der Rechtsprechung der Vergabesenate der Oberlandesgerichte ist hierzu weitgehend anerkannt, daß dies nur dann der Fall ist, wenn der ungewöhnlich niedrige Preis Ausdruck eines Wettbewerbsverstoßes ist, insbesondere weil er die Gefahr begründet, daß der Bieter bei der Ausführung des Auftrags in so große Schwierigkeiten geraten wird, daß er die Ausführung vorzeitig abbrechen wird, oder weil er in der zielgerichteten Absicht angeboten wurde, andere Unternehmen aus dem Markt insgesamt zu verdrängen. Der Bundesgerichthof hält hierzu jedoch eine differenzierende Sichtweise für geboten. Für die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags genügt es, wenn der Antragsteller Umstände aufzeigt, die die Unangemessenheit des Preises des jeweiligen Konkurrenzangebots indizieren. Hinsichtlich einer sich dahinter möglicherweise verbergenden wettbewerbswidrigen Verhaltensweise können von dem Antragsteller hingegen im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung keine substantiellen Angaben verlangt werden. In materieller Hinsicht vermittelt § 97 Abs. 6 GWB nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs jedem Bieter ein subjektives Recht darauf, daß die Bestimmungen über die Auskömmlichkeitsprüfung angewandt und das dafür vorgesehene Verfahren durchlaufen wird. Zwar schützen diese Bestimmungen zunächst den Auftraggeber und hinsichtlich des einzuhaltenden Verfahrens auch den von einem Ausschluß betroffenen Bieter. Gleichzeitig können aber auch die übrigen Teilnehmer am Vergabeverfahren verlangen, daß die vergaberechtliche Preisprüfung korrekt vorgenommen wird, da die Vorschriften den Wettbewerbsgrundsatz konkretisieren und eine wettbewerbskonforme Auftragsvergabe sicherstellen wollen.

Der Anspruch der übrigen Bieter ist darauf gerichtet, daß der Auftraggeber das Verfahren zur Auskömmlichkeitsprüfung ordnungsgemäß durchführt. Sie können jedoch nicht verlangen, daß Angebote mit einem ungewöhnlich niedrigen Preis zwingend ausgeschlossen werden. Abgesehen von den Fällen eines Verstoßes gegen umwelt-, sozial- oder arbeitsrechtliche Vorschriften (§ 60 Abs. 3 Satz 2 VgV) sehen die vergaberechtlichen Bestimmungen über die Preisangemessenheitsprüfung lediglich vor, daß der Auftraggeber ein Angebot, dessen ungewöhnlich niedriger Preis nicht hinreichend erklärt werden kann, ausschließen darf. Dem Auftraggeber steht hierbei ein rechtlich gebundenes Ermessen zu. Er hat einzuschätzen, ob die Annahme des Angebots mit Risiken für eine wirtschaftliche Beschaffung verbunden sind, die beispielsweise darin liegen können, daß der Auftragnehmer auf Grund des niedrigen Preises versucht sein kann, den Auftrag so unaufwändig wie möglich und damit auch nicht vertragsgerecht zu erfüllen oder aber durch möglichst viele Nachträge den niedrigen Preis zu kompensieren. Dies ist freilich noch nicht bei jedem Unterkostenangebot der Fall. Gelangt der Auftraggeber aber bei dieser Einschätzung zu dem Ergebnis, daß Ungewißheiten verbleiben, ist die Ablehnung des Zuschlags geboten.

Zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen innerhalb des Verfahrens zur Preisangemessenheitsprüfung hat die Vergabekammer nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs ein In-camera-Verfahren in Anlehnung an § 72 GWB durchzuführen, soweit der Antragsteller Akteneinsicht begehrt. An diesem Zwischenverfahren sind der Antragsteller und der betroffene Bieter, i. d. R. nicht jedoch der Auftraggeber zu beteiligen. Dabei hat die Vergabekammer zu entscheiden, ob das Geheimhaltungsinteresse des betroffenen Bieters oder das Offenlegungsinteresse des Antragstellers überwiegt. Die Entscheidung der Vergabekammer über die Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen des betroffenen Bieters ist rechtsmittelfähig, kann also mit der sofortigen Beschwerde zum Oberlandesgericht angefochten werden. Gelangt die Vergabekammer zu dem Ergebnis, daß das Geheimhaltungsinteresse des betroffenen Bieters das Offenlegungsinteresse überwiegt, darf sie ihre Sachentscheidung gleichwohl auf die nicht offengelegten Tatsachen stützen, wobei sie auch das Recht der Beteiligten auf rechtliches Gehör und auf effektiven Rechtsschutz zu berücksichtigen hat.

Die Entscheidung ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Die Ausführungen zum Anspruch der konkurrierenden Bieter auf Durchführung der Auskömmlichkeitsprüfung haben einen eher klarstellenden Charakter und konkretisieren die teilweise ungenaue Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, die nicht hinreichend deutlich zwischen dem Anspruch auf Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote und dem Anspruch auf ihren Ausschluß unterscheidet. Die Überlegungen zum materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstab fügen sich ebenfalls zumindest im Grundsatz in das bisher vorherrschende Verständnis von der Auskömmlichkeitsprüfung als eines Verfahrensschritts zur Sicherstellung einer Vergabe im Wettbewerb ein. Die Zulassung eines In-camera-Verfahrens vor der Vergabekammer stellt demgegenüber eine echte Innovation dar.

BGH, Beschl. v. 31. Januar 2017, X ZB 10/16

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