Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 3 der Richtlinie 2004/18/EG sehen vor, daß sich Bieter auf die Kapazitäten Dritter berufen dürfen, um ihre eigene Leistungsfähigkeit in technischer oder wirtschaftlicher Hinsicht nachzuweisen. Damit wird die Möglichkeit der Eignungsleihe eröffnet, die im innerstaatlichen Recht z. B. in § 6 Abs. 8 VOB/A-EG umgesetzt wird und die insbesondere den in der VOB/A zuvor geltenden Grundsatz der Selbstausführung abgelöst hat. Sowohl das Richtlinienrecht als auch das innerstaatliche deutsche Recht sehen dabei vor, daß der Bieter, der von der Möglichkeit der Eignungsleihe Gebrauch machen will, dem Auftraggeber nachweisen muß, daß ihm die erforderlichen Drittkapazitäten zur Verfügung stehen.
Die Ausgestaltung dieses Nachweises ist Gegenstand eines derzeit beim EuGH anhängigen Vorabentscheidungsverfahren, in dem der Generalanwalt Melchior Wathelet jetzt seine Schlußanträge vorgelegt hat. Dem Vorabentscheidungsersuchen liegt ein lettisches Vergabeverfahren aus dem Bereich des Straßenbaus zugrunde. Der Auftraggeber sah in den Vergabeunterlagen vor, daß Bieter, die sich auf die Kapazitäten Dritter berufen wollen, im Zuschlagsfalle entweder einen sogenannten Partnerschaftsvertrag mit gesamtschuldnerischer Haftung schließen oder eine offene Handelsgesellschaft („Kollektivgesellschaft“ nach lettischem Recht) bilden müssen. Nach der Auffassung des Generalanwalts hält eine solche Vorgabe dem Prüfungsmaßstab des Richtlinienrechts nicht stand, da sie die Möglichkeit der Bieter, sich auf die Kapazitäten Dritter berufe, beschränke, ohne daß dies in der Richtlinie angelegt sei. Insbesondere sehe die Richtlinie nicht vor, daß der Nachweis der Verfügbarkeit der Drittkapazitäten nur auf bestimmte Weise, hier: durch Eingehung der gesamtschuldnerischen Haftung oder durch Bildung einer Gesellschaft, erbracht werden könne, sondern überlasse die Wahl des Nachweises gerade dem Bieter. Werde dem Bieter hingegen aufgegeben, die Drittunternehmen auf eine solche Weise für die Vertragserfüllung mithaften zu lassen, schmälere dies seine Chancen, überhaupt Dritte zu finden, die sich zur Überlassung eigener Kapazitäten bereit erklärten.
Die Sichtweise des Generalanwalts steht in der Tradition der Rechtsprechung des EuGH, die seit langem die Freiheit des Bieters zur Eignungsleihe betont und die ihrerseits Grundlage für die später ins Richtlinienrecht übernommenen Regelungen ist (u. a. EuGH, Urt. v. 14. April 1994, Rs. C-389/92, Ballast Nedam Groep VN I; EuGH, Urt. v. 18. Dezember 1997, Rs. C-5/97, Ballast Nedam Groep NV II; EuGH, Urt. v. 2. Dezember 1999, Rs. C-176/98, Holst Italia SpA). Insoweit ist die Argumentation sicherlich schlüssig. Neuerungen werden sich jedoch durch die Richtlinie 2014/24/EU ergeben, denn diese sieht in Art. 63 Abs. 1 3. UAbs. vor, daß Auftraggeber von Bietern, die sich hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen oder finanziellen Leistungsfähigkeit auf die Kapazitäten Dritter berufen, verlangen können, daß Bieter und Dritte „gemeinsam für die Auftragsausführung“ haften. Für diesen Teilbereich der Eignungsleihe werden die in dem jetzigen Vorabentscheidungsverfahren zu klärenden Rechtsfragen daher schon bald anders zu beantworten sein.
Schlußanträge des Generalanwalts Wathelet vom 4. Juni 2015, Rs. C-234/14, Ostas celtnieks SIA.