OLG Düsseldorf: keine Notvergabe von ÖPNV-Verträgen außerhalb der VO (EG) Nr. 1370/2007

Bei der Vergabe von ÖPNV-Verträgen erlaubt Art. 5 Abs. 5 Satz 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007  der zuständigen Behörde, im Falle einer Unterbrechung des Verkehrsdienstes oder bei unmittelbarer Gefahr des Eintretens einer solchen Situation einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag als Notmaßnahme direkt zu vergeben. Auf diese Weise soll vermieden werden, daß es dadurch zu Beeinträchtigungen im Verkehrsangebot kommt, daß das notwendige Verfahren zur Vergabe eines entsprechenden Vertrags nicht rechtzeitig abgeschlossen werden kann. Eine Direktvergabe auf dieser Grundlage setzt allerdings voraus, daß es sich bei dem zu vergebenden Vertrag nicht um einen Dienstleistungsauftrag im Sinne des allgemeinen Vergaberechts handelt. Denn in einem solchen Fall finden gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 1370/2007 die allgemeinen Vergaberegeln auf die Auftragsvergabe Anwendung, die eine derartige Direktvergabe nicht erlauben. Anläßlich einer Direktvergabe von Omnibusdienstleistungen hat das Oberlandesgericht Düsseldorf diese Grundsätze nun erneut klargestellt (Beschl. v. 23. Dezember 2015, VII-Verg 34/15). In dem zu entscheidenden Fall stufte das Gericht den vergebenen Auftrag als Dienstleistungsauftrag ein, der nach den Bestimmungen des GWB und der SektVO zu vergeben ist. Der Auftraggeber hingegen wollte den Vertrag als Dienstleistungskonzession behandelt wissen, was weg vom allgemeinen Vergaberecht und hin zur Anwendung des insoweit großzügigeren Sonderregimes der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 geführt hätte. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte der Auftraggeber in den Vertrag sogar eigens hineingeschrieben, daß der Auftragnehmer das Risiko eines finanziellen Verlustes aus seiner unternehmerischen Tätigkeit tragen solle; hierbei handelt es sich um ein maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen Dienstleistungsaufträgen und Dienstleistungskonzessionen (u. a. BGH, Beschl. v. 8. Februar 2011, X ZB 4/10; s. dazu nunmehr Art. 5 Nr. 1 der Richtlinie 2014/23/EU). Bei genauerem Hinsehen erwies sich dieser vertragliche Programmsatz jedoch als leere Worthülse, denn in Wirklichkeit sahen die vertraglichen Abreden nach den Feststellungen des Gerichts vor, daß der Auftragnehmer zusätzlich zu den Fahrgeldeinnahmen einen Ausgleichsbetrag nebst Kapitalrendite erhalten sollte. Bei einem Rückgang der Einnahmen aus den Fahrkartenverkäufen war sogar ein vollständiger Ausgleich der Mindererlöse vorgesehen. Dies führte zur Einstufung des Vertrages als Dienstleistungsauftrag und damit zur Anwendbarkeit des GWB und der SektVO, die die vom Auftraggeber vorgenommene Direktvergabe nicht erlauben. Auch für einen im allgemeinen Vergaberecht etablierten Ausnahmetatbestand, etwa denjenigen der äußersten Dringlichkeit (§ 6 Abs. 2 Nr. 4 SektVO), lagen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor, da das Ende des vorangehenden Vertrages seit langem absehbar war. Der Auftraggeber hätte daher ohne weiteres rechtzeitig die Neuvergabe in einem vergaberechtskonformen Verfahren einleiten können, so daß der stattdessen verfahrensfrei geschlossene Vertrag vom Gericht für unwirksam erklärt wurde.

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23. Dezember 2015, VII-Verg 34/15

VK Bund zur Formulierung von Eignungsanforderungen

§ 97 Abs. 4 Satz 1 GWB bestimmt die Anforderungen an die Eignung von Bietern anhand abstrakt gefaßter Eignungsdimensionen. Das Vergaberecht legt es damit weitgehend in die Hände des Auftraggebers, die Kriterien der Fachkunde, Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Gesetzestreue für die konkrete Auftragsvergabe zu spezifizieren und festzulegen, welche Eignungsanforderungen im Einzelnen an die Bieter gestellt werden und wie diese nachzuweisen sind. Daß diese eindeutig zu formulieren sind, so daß jeder Bieter weiß, was von ihm verlangt wird, ist schon unter dem Gesichtspunkt des vergaberechtlichen Tranzparenzerfordernisses (§ 97 Abs. 1 GWB) eine Selbstverständlichkeit. Daß dies Auftraggebern dennoch mitunter schwerfallen kann, zeigt der Beschluß der 2. Vergabekammer des Bundes vom 22. Januar 2016 (VK 2-131/15). Nachgefragt wurden Reinigungsleistungen. Zum Nachweis der technischen Leistungsfähigkeit der Bieter verlangte der Auftraggeber in der Vergabebekanntmachung Angaben über mindestens drei Referenzaufträgen, deren jeweiliger Gegenstand mit dem Gegenstand des zu vergebenden Auftrags vergleichbar sein mußte. Die Vergleichbarkeit der Referenz sollte dann gegeben sein, wenn die „zu reinigende Fläche“ eine bestimmte Größe erreichte. Auf die Bieterfrage, ob damit die jährliche Reinigungsfläche oder die Grundfläche gemeint sei, antwortete der Auftraggeber, daß sich die Vorgabe auf die „zu reinigende Grundfläche“ beziehe, die im Leistungsverzeichnis beschrieben sei. Das Leistungsverzeichnis bezog in die Ermittlung der zu reinigenden Fläche allerdings auch das Reinigungsintervall ein. Damit blieb offen, ob für die Vergleichbarkeit allein die Fläche des jeweiligen Gebäudes selbst maßgeblich sein sollte und wie diese ggf. zu bestimmen sei oder ob statt dessen die tatsächliche Reinigungsleistung, die aus der Multiplikation der zu reinigenden Fläche mit der Anzahl der jährlichen Reinigungsvorgänge ergibt, herangezogen werden sollte. Auch weitere Antworten des Auftraggebers auf Bieterfragen konnten nicht für die erforderliche Klarheit sorgen, so daß die Vergabekammer dem Auftraggeber die Zurückversetzung des Verfahrens aufgab. Die Entscheidung belegt damit einmal mehr, daß ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren mit der Sorgfalt und Präzision, mit der die für das Verfahren maßgeblichen Festlegungen getroffen werden, steht und fällt.

2. VK Bund, Beschl. v. 22. Januar 2016, VK 2-131/15

OLG Rostock: Fehlerhafte Kostenschätzung kann zur Unwirksamkeit des Vertrages führen

Maßgeblich für die Erreichung der kartellvergaberechtlichen Schwellenwerte ist die Schätzung des Auftragswerts zum Zeitpunkt der Einleitung des Vergabeverfahrens (§ 3 Abs. 9 VgV). Verschätzt sich der Auftraggeber und wird der Auftrag tatsächlich teurer, ist dies demnach im Grundsatz unbeachtlich. Anders verhält sich dies jedoch dann, wenn die Schätzung des Auftragswerts von Anfang an fehlerhaft war, etwa weil der Auftraggeber nicht den Auftragsgegenstand, sondern eine damit nicht vergleichbare Leistung zum Gegenstand der Schätzung gemacht hat. Führt eine solche fehlerhafte Schätzung dazu, daß der Auftraggeber den Auftrag nicht nach den Bestimmungen des Kartellvergaberechts vergibt, sondern lediglich ein haushaltsvergaberechtliches Verfahren durchführt, kann dies zur Unwirksamkeit des Vertrages führen. Anschaulich zeigt dies ein Beschluß des Oberlandesgerichts Rostock vom 6. November 2015 (17 Verg 2/15). Die Unwirksamkeit kann sich bereits aus § 101b Abs. 1 Nr. 1 GWB ergeben, wenn der Auftraggeber den Zuschlag erteilt, ohne die übergangenen Bieter vorher gemäß § 101a Abs. 1 GWB unterrichtet zu haben. Aus seiner Sicht ist ein solches Vorgehen folgerichtig, da er den Anwendungsbereich des Kartellvergaberechts nicht für eröffnet hält; in der Sache entbindet ihn dies freilich nicht von der Informations- und Wartepflicht (s. dazu auch OLG Dresden, Beschl. v. 24. Juli 2012, Verg 2/12). Zwar mag der Auftraggeber dem noch dadurch begegnen, daß er vorsorglich alle Auftragsinteressenten über die bevorstehende Zuschlagserteilung unterrichtet, auch wenn er sich dazu nicht verpflichtet sieht. Gleichwohl hilft dies nicht darüber hinweg, daß auch die fehlende EU-weite Bekanntmachung des Auftrags jedenfalls gegen § 101b Abs. 1 Nr. 2 GWB als De-facto-Vergabe im weiteren (unechten) Sinne verstößt. In seinem Beschluß bestätigt das OLG Rostock damit die gefestigte Rechtsprechung der Oberlandesgerichte (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3. 8. 2011, VII-Verg 33/11 m. w. N.). Da in dem vom OLG Rostock entschiedenen Fall sowohl die Informations- und Wartepflicht als auch die Pflicht zur EU-weiten Bekanntmachung verletzt worden waren und zudem weitere Vergaberechtsverstöße im Raum standen, mußte sich das Gericht nicht mehr mit der Frage auseinandersetzen, ob ein Bieter, der trotz der defizitären Bekanntmachung ein Angebot abgegeben hat, die für das Nachprüfungsverfahren erforderliche Antragsbefugnis im Hinblick auf das Bekanntmachungsdefizit besitzt. In anders gelagerten Fällen bedarf das indessen der genauen Prüfung. Ganz unabhängig davon ist der Beschluß des OLG Rostock schon deshalb lesenswert, weil er von erstaunlichen Verquickungen zwischen Auftraggeber und einem Bieter berichtet: U. a. waren Mitarbeiter des vorgesehenen Zuschlagsempfängers an der Prüfung und Wertung der Angebote beteiligt.  „OLG Rostock: Fehlerhafte Kostenschätzung kann zur Unwirksamkeit des Vertrages führen“ weiterlesen

Eignungsleihe: Der Bieter bestimmt die Art der Beziehung und des Nachweises

In der Rechtssache C‑234/14 (Ostas celtnieks SIA)  ist der EuGH nun den Schlußanträgen des Generalanwalts gefolgt und hat die Festlegung eines öffentlichen Auftraggebers beanstandet, die es einem Bieter, der sich auf die Kapazitäten eines dritten Unternehmens beruft, auferlegt, mit dem Drittunternehmen einen Kooperationsvertrag abzuschließen oder eine Personengesellschaft zu gründen.

Dem Vorabentscheidungsersuchen liegt ein lettisches Vergabeverfahren aus dem Bereich des Straßenbaus zugrunde. Der Auftraggeber sah in den Vergabeunterlagen vor, daß Bieter, die sich auf die Kapazitäten Dritter berufen wollen, im Zuschlagsfalle entweder einen sogenannten Partnerschaftsvertrag mit gesamtschuldnerischer Haftung schließen oder eine offene Handelsgesellschaft („Kollektivgesellschaft“ nach lettischem Recht) bilden müssen. Ebenso wie bereits zuvor Generalanwalt Melchior Wathelet hält auch der EuGH eine solche Vorgabe für nicht mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 3 der Richtlinie 2004/18/EG vereinbar. Sie beschränke die Möglichkeit der Bieter, sich auf die Kapazitäten Dritter berufen, ohne daß dies in der Richtlinie angelegt sei. Die Richtlinie erlaube dem Bieter sowohl die Wahl der rechtlichen Beziehung, die er mit dem Drittunternehmen eingehen wolle, als auch die Art und Weise, wie er diese Beziehung nachweisen wolle.

Dieses Ergebnis entspricht der bisherigen Rechtsprechung des EuGH, die seit langem die Freiheit des Bieters zur Eignungsleihe betont und die ihrerseits Grundlage für die später ins Richtlinienrecht übernommenen Regelungen ist (u. a. EuGH, Urt. v. 14. April 1994, Rs. C-389/92, Ballast Nedam Groep VN I; EuGH, Urt. v. 18. Dezember 1997, Rs. C-5/97, Ballast Nedam Groep NV II; EuGH, Urt. v. 2. Dezember 1999, Rs. C-176/98, Holst Italia SpA). Die Aussagen des jetzigen Urteils stehen damit auf sicherem Grund. Neuerungen werden sich jedoch durch die Richtlinie 2014/24/EU ergeben, denn diese sieht in Art. 63 Abs. 1 3. UAbs. vor, daß Auftraggeber von Bietern, die sich hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen oder finanziellen Leistungsfähigkeit auf die Kapazitäten Dritter berufen, verlangen können, daß Bieter und Dritte „gemeinsam für die Auftragsausführung“ haften. Insoweit wird also in Zukunft  eine andere Sichtweise anzulegen sein, denn für diesen Teilbereich der Eignungsleihe werden Auftraggeber die gesamtschuldnerische Haftung von Bieter und Drittem vorgeben können. Der Inhalt der rechtlichen Beziehung zwischen Bieter und Drittem wird damit nicht mehr allein ins Belieben des Bieters gestellt.

EuGH, Urt. v. 14. Januar 2016, Rs. C-234/14, Ostas Celtnieks SIA

 

VK Niedersachsen: Vergaberechtliche Tariftreuepflichten verstoßen gegen EU-Recht

Spätestens seit dem vielbeachteten Urteil des EuGH zu den Mindestlohnbestimmungen des nordrhein-westfälischen TVgG (EuGH, Urt. v. 18. September 2014, Rs. C-549/13, Bundesdruckerei GmbH) steht die Vereinbarkeit von Lohnvorgaben mit den Bestimmungen des EU-Rechts im Blickpunkt der vergaberechtlichen Diskussion. Die Vergabekammer Niedersachsen mußte sich nun mit der Zulässigkeit einer landesrechtlichen Tariftreuepflicht befassen. Diese ergibt sich aus § 4 Abs. 3 Satz 2 des niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetzes (NTVergG) und betrifft in dem jetzt entschiedenen Fall den Schülerverkehr, der von der Anwendung der Bestimmungen des Personenbeförderungsgesetzes gemäß § 1 Nr. 4 d) der Verordnung über die Befreiung bestimmter Beförderungsfälle von den Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes (Freistellungs-Verordnung) freigestellt ist. „VK Niedersachsen: Vergaberechtliche Tariftreuepflichten verstoßen gegen EU-Recht“ weiterlesen

Eignungsleihe nur bei gesamtschuldnerischer Haftung?

Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 3 der Richtlinie 2004/18/EG sehen vor, daß sich Bieter auf die Kapazitäten Dritter berufen dürfen, um ihre eigene Leistungsfähigkeit in technischer oder wirtschaftlicher Hinsicht nachzuweisen. Damit wird die Möglichkeit der Eignungsleihe eröffnet, die im innerstaatlichen Recht z. B. in § 6 Abs. 8 VOB/A-EG umgesetzt wird und die insbesondere den in der VOB/A zuvor geltenden Grundsatz der Selbstausführung abgelöst hat. Sowohl das Richtlinienrecht als auch das innerstaatliche deutsche Recht sehen dabei vor, daß der Bieter, der von der Möglichkeit der Eignungsleihe Gebrauch machen will, dem Auftraggeber nachweisen muß, daß ihm die erforderlichen Drittkapazitäten zur Verfügung stehen. „Eignungsleihe nur bei gesamtschuldnerischer Haftung?“ weiterlesen

Ist die Vergabekammer Berlin weiterhin nur teilweise arbeitsfähig?

Dass es um die Arbeitsfähigkeit der Vergabekammer Berlin nicht zum besten steht, ist seit ‎längerer Zeit bekannt. Bereits im Herbst 2013 sorgte ein Beschluss des Kammergerichts für Aufsehen (KG, ‎Beschl. v. 24. Oktober 2013, Verg 11/13). Das Gericht stellte darin u. a. fest, daß die ‎Vergabekammer den Beteiligten des Nachprüfungsverfahrens mitgeteilt habe, daß sie ihre ‎Amtstätigkeit im Zuständigkeitsbereich der 2. Beschlußabteilung mangels personeller Besetzung für ‎absehbare Zeit eingestellt habe. Als Folge daraus konnten diverse Nachprüfungsverfahren ‎‎(s. u. a. KG, Beschl. v. 1. September 2014, Verg 18/13; KG, Beschl. v. 18. Dezember 2014, Verg 21/13) nicht in der gesetzlich vorgesehen Entscheidungsfrist (§ 113 Abs. 2 Satz 1 GWB) beendet ‎werden, so daß die Ablehnung des Antrags fingiert wurde und der Weg zur sofortigen Beschwerde ‎eröffnet war (§ 116 Abs. 2 GWB). Nachdem das Thema nicht nur im Abgeordnetenhaus, sondern ‎auch mehrfach in der Tagespresse zur Sprache kam, beschloß der Berliner Senat am 28. Oktober 2014 mit der 1. Änderungsverordnung zur Berliner Nachprüfungsverordnung, daß sowohl der ‎Vorsitzende als auch der hauptamtliche Beisitzer der betroffenen 2. Beschlußabteilung nicht mehr ‎wie bisher von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, sondern künftig von der ‎Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz benannt werden. Vor dem Hintergrund der ‎gesetzlichen Vorgabe, nach der eines dieser beiden Mitglieder ein Volljurist sein muß (§ 105 Abs. 2 ‎Satz 3 GWB), erhoffte man sich damit offenbar, die personellen Lücken in der Vergabekammer ‎besser schließen zu können. ‎ Ob dieser Plan zwischenzeitlich zum gewünschten Erfolg geführt hat, scheint allerdings weiterhin ‎fraglich. Nach einem kürzlich veröffentlichten Beschluß des Kammergerichts vom 27. Januar 2015, ‎Az. Verg 9/14, hat sich jedenfalls bis Ende des vergangenen Jahres nichts an der beklagenswerten ‎Situation geändert. Denn dort findet sich wiederum die Feststellung, daß die Vergabekammer den ‎Beteiligten des Nachprüfungsverfahrens mitgeteilt habe, daß sie mangels ausreichender personeller Besetzung der zuständigen ‎‎2. Beschlußabteilung auf absehbare Zeit nicht werde in der Sache entscheiden können. Der wiederholt angebrachte Hinweis des Kammergerichts, daß dieser Zustand den ‎Grundsätzen einer ordnungsgemäßen und rechtsstaatlichen Verwaltung widerspreche, verhallt ‎also offenbar weiterhin ungehört. Das Kammergericht leitet daraus zudem in mittlerweile gefestigter ‎Rechtsprechung ab, daß sich das Land Berlin als öffentlicher Auftraggeber im Rahmen etwaiger ‎Eilanträge vor dem Beschwerdegericht (§ 118 Abs. 1 Satz 3 GWB) nicht auf eine Dringlichkeit der ‎Auftragsvergabe berufen könne, da es die im Nachprüfungsverfahren durch die Nichtbesetzung ‎der Vergabekammer entstehende Verzögerung selbst zu vertreten habe. Dies entspricht dem ‎zivilprozessualen Gedanken der Selbstwiderlegung: Wer selbst durch sein Verhalten zum Ausdruck ‎bringt, daß die Sache nicht besonders eilbedürftig ist, kann sich im Eilverfahren nicht auf die ‎Dringlichkeit seines Anliegens berufen. Für Vergabestellen des Landes Berlin, die auf die personelle ‎Situation im Bereich der Vergabekammer üblicherweise keinen Einfluß haben, mag dies mißlich ‎sein; in der Sache hingegen ist es sicherlich konsequent. Es darf mit Spannung erwartet werden, bis ‎wann das Kammergericht seine Spruchtätigkeit als faktische Eingangsinstanz fortführen muß.‎

KG, Beschl. v. 29. Januar 2015, Verg 9/14.

Dürfen Schadensersatzansprüche bei rechtswidrigen De-facto-Vergaben von der Wahrung der Fristen für das Nachprüfungsverfahren abhängig gemacht werden?

Erneut hat sich der EuGH mit den Anforderungen zu befassen, die das EU-Recht an die Ausgestaltung der Fristen zur Nachprüfung rechtswidriger Vergaben stellt. In ihren Schlußanträgen vom 21. Mai 2015 in der Rechtssache C-166/14, MedEval GmbH, beleuchtet die Generalanwältin Juliane Kokott eine Regelung des österreichischen Rechts. Diese sieht vor, daß Schadensersatzansprüche wegen einer rechtswidrigen De-facto-Vergabe voraussetzen, daß die Rechtswidrigkeit der Auftragserteilung zuvor von der Vergabekontrollbehörde festgestellt wurde. Eine solche Feststellung setzt die Anbringung eines Nachprüfungsantrags innerhalb von sechs Monaten ab Zuschlag voraus, und zwar unabhängig davon, ob der Antragsteller von der Vergabe Kenntnis hat. Die Generalanwältin hält diese Regelung für nicht vereinbar mit dem Effektivitätsgrundsatz: Denn anders als bei der auf Primärrechtsschutz gerichteten Vergabenachprüfung sei der Anspruch auf Schadensersatz nicht auf Vernichtung des bereits geschlossenen Vertrages gerichtet. Daher sei es nicht angezeigt, die Effektivität des Rechtsschutzes zugunsten von Gesichtspunkten der Rechtssicherheit zurücktreten zu lassen. Aus Art. 2f Abs. 1 b) der Richtlinie 89/665/EWG folge nichts anderes, da die dort ausdrücklich zugelassene kenntnisunabhängige Sechs-Monats-Frist nur für Nachprüfungen nach Art. 2d Abs. 1 der Richtlinie gelte, d. h. für Nachprüfungsverfahren, die die Unwirksamkeit des geschlossenen Vertrages anstreben. Werde Schadensersatz geltend gemacht, falle dies unter Art. 2f Abs. 1 der Richtlinie, so daß die Fristen durch das innerstaatliche Recht geregelt würden. Dieses werde neben dem Äquivalenzgrundsatz insbesondere durch den Effektivitätsgrundsatz eingeschränkt, der hier nicht gewahrt sei. „Dürfen Schadensersatzansprüche bei rechtswidrigen De-facto-Vergaben von der Wahrung der Fristen für das Nachprüfungsverfahren abhängig gemacht werden?“ weiterlesen

Generalanwalt Jääskinen zur Höhe der Gebühren im Vergabenachprüfungsverfahren

Das EU-Vergaberecht läßt den Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum bei der Ausgestaltung der ‎behördlichen und gerichtlichen Verfahren, die der Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Aufträge ‎dienen. Die Rechtsmittelkoordinierungsrichtlinie 89/665/EWG, die zuletzt durch die Richtlinie ‎‎2007/66/EG geändert wurde, beschränkt sich im wesentlichen darauf, bestimmte Vorgaben für die ‎Einrichtung eines effektiven Rechtsschutzes gegen Vergaberechtsverletzungen zu machen. Zu ‎diesen gehören insbesondere die Schaffung entsprechender Nachprüfungsverfahren (Art. 1 f. der ‎Richtlinie 89/665/EWG), die Festlegung einer Stillhaltefrist vor Zuschlag (Art. 2a der Richtlinie ‎‎89/665/EWG) und die Verpflichtung, De-facto-Vergaben mit der Unwirksamkeitssanktion zu ‎belegen (Art. 2d der Richtlinie 89/665/EWG). Daß das EU-Recht gleichwohl auch für Einzelfragen des ‎Verfahrensrechts Bedeutung erlangen kann, zeigen die am 5. Mai 2015 vorgelegten Schlußanträge ‎des Generalanwalts Niilo Jääskinen in der Rs. C-61/14, Orizzonte Salute. Dem Verfahren liegt ein ‎Vorabentscheidungsersuchen des Regionalen Verwaltungsgerichts Trient (Tribunale Regionale di ‎Giustizia Amministrativa di Trento) zugrunde, das die Vergabe eines Auftrags über ‎Krankenpflegedienste betrifft. Mit seinen Vorlagefragen möchte das Gericht wissen, ob die ‎Bestimmungen der Rechtsmittelkoordinierungsrichtlinie so auszulegen sind, daß sie einer ‎Gerichtskostenregelung wie derjenigen im italienischen Recht entgegenstehen. Diese zeichnet sich ‎u. a. dadurch aus, daß für die Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Aufträge höhere ‎Gerichtsgebühren als in anderen verwaltungsgerichtlichen Verfahren anfallen und daß diese ‎Gebühren sich weiter erhöhen, wenn innerhalb desselben Verfahrens weitere Gründe geltend ‎gemacht oder weitere Anträge gestellt werden. In seinen Schlußanträgen mißt der Generalanwalt ‎die italienischen Kostenbestimmungen am Äquivalenz- und am Effektivitätsgrundsatz, die er im ‎Lichte von Art. 47 der Grundrechtecharta auslegt. Der Äquivalenzgrundsatz ist nach der Auffassung ‎des Generalanwalts nicht verletzt, weil die die für öffentliche Aufträge anfallenden Gebühren ihrer ‎Höhe nach unabhängig davon seien, ob es sich um Aufträge innerhalb oder außerhalb des ‎Anwendungsbereichs des EU-Vergaberechts handele. Den Effektivitätsgrundsatz hält der ‎Generalanwalt hinsichtlich der absoluten Höhe der Gebühren für gewahrt, da dies in einem ‎angemessenen Verhältnis zu dem Gegenstandswert des Nachprüfungsverfahrens stehe. Mit Blick ‎auf die im italienischen Recht vorgesehene Gebührenkumulation bei Geltendmachung weiterer ‎Gründe oder bei Stellung weiterer Anträge will es der Generalanwalt dem vorlegenden Gericht ‎überlassen zu entscheiden, ob die darin liegende Beschränkung der Effektivität des Zugangs zum ‎Gericht verhältnismäßig ist.‎ Aus Sicht des deutschen Rechts besteht unter Zugrundelegung der vom Generalanwalt ‎aufgezeigten Grundsätze wenig Anlaß, an der Europarechtskonformität der bestehenden ‎Kostenregelungen zu zweifeln. Die Gebühren für ein Nachprüfungsverfahren vor der ‎Vergabekammer, die sich gemäß § 128 Abs. 2 GWB i. d. R. innerhalb eines Rahmens von 2.500 EUR ‎bis 50.000 EUR bewegen, werden in der Verwaltungspraxis der Vergabekammern im wesentlichen ‎nach der Höhe des Auftragswerts festgelegt (s. dazu die Gebührentabelle der Vergabekammern ‎des Bundes). Die darin liegende Wertabhängigkeit dürfte unter dem ‎Gesichtspunkt der Effektivität des Rechtsschutzes dem Grunde nach ebenso unbedenklich sein wie ‎das in der Praxis daneben herangezogene Kriterium des durch das Verfahren verursachten ‎Verwaltungsaufwandes. Freilich bleibt abzuwarten, wie sich der Gerichtshof zu den Vorlagefragen ‎und den Schlußanträgen verhält.‎

Schlußanträge des Generalanwalts Jääskinen vom 7. Mai 2015, Rs. C-61/14, Orizzonte Salute.‎