BVerfG: erfolgreiche Verfassungsbeschwerde nach fehlerhafter Nichtzulassung der Berufung

Das Bundesverfassungsgericht zeigt in einem aktuellen Beschluss die verfassungsrechtlichen Grenzen der Nichtzulassung der Berufung im Verwaltungsprozess auf. Erfahrungsgemäß unterliegt die Quote der Zulassung der Berufung durch die Oberverwaltungsgerichte (§ 124a Abs. 5 VwGO) von Gericht zu Gericht erheblichen Schwankungen. Über die Gründe dafür kann nur gemutmaßt werden. Dass der eine oder andere Senat dabei über die Stränge schlägt und den Zugang zum Berufungsverfahren in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise erschwert, zeigen Entscheidungen wie die vorliegende.

In seinem Beschluss vom 18. Juni 2019 misst der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Zulassungspraxis des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts am Maßstab von Art. 19 Abs. 4 GG. Zwar gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Hat der Gesetzgeber mehrere gerichtliche Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen jedoch nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Die Anforderungen an die Darlegung der Gründe für die Zulassung der Berufung im Verwaltungsprozess werden nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung etwa dann verfassungswidrig überspannt, wenn an die Begründung eines Zulassungsantrags nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dieselben Anforderungen gestellt werden wie an die spätere Berufungsbegründung nach § 124a Abs. 3 VwGO. Ebenso wenig kann dem Antrag auf Zulassung der Berufung die Darlegung vollständiger Gründe abverlangt werden, die das Gericht im Fall der Stattgabe selbst zu entwickeln hätte.

Im hier entschiedenen Fall hatte der Beschwerdeführer mit der Klage und dem späteren Antrag auf Zulassung der Berufung Fragen der Wahrung des Zitiergebotes (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG) im Fall der Subdelegation nach Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG aufgeworfen. Hierzu existierte bislang nur eine ältere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, während in der Folgezeit die aus dem Zitiergebot folgenden Anforderungen sowohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch im Schrifttum näher diskutiert und konkretisiert wurden. Gleichwohl verneinte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht sowohl den Zulassungsgrund der ernstlichen Richtigkeitszweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) als auch den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Beides rügte das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig: Da sich in der Zwischenzeit nicht zuletzt aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung neue Argumente zu der hier maßgeblichen Fragestellung ergeben hatten, durfte das Oberverwaltungsgericht die Rechtsfrage nicht mit Verweis auf die ältere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes als geklärt ansehen und das Vorliegen eines Zulassungsgrundes verneinen. Vielmehr hätten sowohl ernstliche Richtigkeitszweifel als auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bejaht werden müssen. Die Entscheidung verdeutlicht einmal mehr, dass das verwaltungsgerichtliche Verfahren nach Ablehnung der Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht noch nicht zu Ende sein muss. Neben dem hier problematisierten Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ist auch das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) betroffen, wenn die Oberverwaltungsgerichte die §§ 124, 124a VwGO zu restriktiv handhaben. Im hier entschiedenen Fall brachte dem Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis jedoch nicht den gewünschten Erfolg, da das Bundesverfassungsgericht die zugrunde liegende Ausgangsfrage nach der Reichweite des Zitiergebots selbst beantwortete, und zwar gerade nicht im Sinne des Beschwerdeführers.

BVerfG, Beschl. v. 18. Juni 2019, 1 BvR 587/17

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