Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans: hohe Anforderungen an die Offenkundigkeit

Die Diskussion um die Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans hat mit einer aktuellen Entscheidung des 10. Senats des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg eine neue Wendung erfahren. Gegenstand des Berufungsurteils ist die Erteilung eines Bauvorbescheids für den Ausbau eines Dachgeschosses eines fünfstöckigen Altbaus in Berlin-Kreuzberg. Das Vorhaben überschreitet u. a. die im Baunutzungsplan für das Vorhabengrundstück festgesetzte Geschossflächenzahl (GFZ) von 1,5. Nachdem das Bezirksamt deshalb die Erteilung des beantragten Vorbescheides versagt hatte, machte der Bauherr im gerichtlichen Verfahren im Wesentlichen die Funktionslosigkeit der GFZ-Festsetzung im Baunutzungsplan geltend. Die Klage blieb vor dem Verwaltungsgericht Berlin und dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg erfolglos.

Sein Urteil stützte das Oberverwaltungsgericht im Wesentlichen auf zwei Gesichtspunkte:

  1. Für die Frage der Funktionslosigkeit sei in der Regel die bauliche Entwicklung in dem jeweiligen Baublock, in dem sich das Vorhabengrundstück befindet, zu betrachten. Der abweichenden Rechtsprechung des 2. Senats des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 15. September 2020 – OVG 2 B 10.17), wonach es auf die Baustufe und das Baugebiet innerhalb der Bezirksgrenzen ankommt, schließt sich der 10. Senat nicht an. Seine Sichtweise stützt der 10. Senat v. a. auf die Großräumigkeit der Festsetzungen des Baunutzungsplans, die es nach der Ansicht des Senats ausschließe, bei der Frage der Funktionslosigkeit auf das gesamte von der jeweiligen Festsetzung betroffene Gebiet abzustellen.
  2. An die Offenkundigkeit der Abweichung zwischen Planinhalt und tatsächlicher baulicher Entwicklung stellt der 10. Senat hohe Anforderungen. Diese soll nur dann gegeben sein, wenn sich bereits bei einer Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse ohne Einsicht in weitere Dokumente aufdrängt, dass die betreffende Festsetzung des Baunutzungsplans nicht mehr zu verwirklichen ist. Diese Voraussetzung sieht der 10. Senat nur in seltenen Ausnahmefällen gegeben. Insbesondere bei der hier betroffenen GFZ-Festsetzung sei dies nicht der Fall, weil sich das Auseinanderfallen von Planinhalt und tatsächlicher städtebaulicher Entwicklung erst aus einer detaillierten Anwendung der hierfür maßgeblichen Rechtsvorschriften unter Auswertung der entsprechenden Bauakten ergebe.

Die Entscheidung des 10. Senats des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg wirft zahlreiche Fragen auf, die möglicherweise in einem Revisionsverfahren beantwortet werden. Einstweilen verstärkt die Entscheidung mit ihren Abweichungen von der Rechtsprechung des 2. Senats die bestehende Rechtsunsicherheit im Zusammenhang mit der Geltung des Baunutzungsplans. Sollte die nunmehr geäußerte Sichtweise des 10. Senats Bestand haben, müsste damit gerechnet werden, dass die städtebaulich weitgehend überholten Maßfestsetzungen des Baunutzungsplans auf nicht absehbare Zeit Bestand haben und insbesondere mit dem Argument der Funktionslosigkeit nicht mehr erfolgreich zu Fall gebracht werden können.

OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22. Februar 2023, OVG 10 B 15.18

 

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