Eine aktuelle Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) befasst sich mit den Anforderungen an die Behandlung ungewöhnlich niedriger Angebote. Das Urteil betrifft ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV, dem ein in Bulgarien durchgeführtes Verfahren zur Vergabe eines Auftrags zur Beschaffung eines Systems zur Ausstellung von Ausweisdokumenten zugrunde lag. Das Verfahren wurde auf de Grundlage der Richtlinie 2009/81/EG führt. In dem Verfahren wurden zwei Angebote abgegeben. Der Bieter, der nach der Zuschlagsentscheidung des Auftraggebers nicht zum Zuge kommen sollte, reichte einen Rechtsbehelf bei der zuständigen Wettbewerbsbehörde ein. Nach Zurückweisung des Rechtsbehelfs und Einlegung einer Beschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht Bulgariens rief dieses den EuGH an. In seinem Vorabentscheidungsersuchen bezog sich das Gericht auf das anzuwendende innerstaatliche Recht, nach dem eine Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote immer dann vorzunehmen ist, wenn der Angebotspreis des erstplatzierten Angebots mehr als 20 % günstiger ist als der Mittelwert der übrigen Angebote. Dies setzt die Existenz mindestens dreier Angebote voraus. Das vorlegende Gericht wollte daher vom EuGH sinngemäß wissen, ob der öffentliche Auftraggeber stets das Vorliegen ungewöhnlich niedriger Angebote prüfen müsse und dies auch dann gelte, wenn nur zwei Angebote eingegangen seien. Auch bat das vorlegende Gericht um Klärung, ob die Beurteilung des öffentlichen Auftraggebers hinsichtlich des Vorliegens eines ungewöhnlich niedrigen Angebots der gerichtlichen Überprüfung im Nachprüfungsverfahren unterliege.
In seiner Entscheidung wies der EuGH zunächst darauf hin, dass es nach gefestigter Rechtsprechung Sache des öffentlichen Auftraggebers ist, festzulegen, wie die Schwelle für das Vorliegen ungewöhnlich niedriger Angebote zu bestimmen ist (u. a. EuGH, Urteil vom 27. November 2001, Lombardini und Mantovani, C‑285/99 und C‑286/99, Rn. 67). Ebenfalls ist geklärt, dass der öffentliche Auftraggeber die Frage, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, im Verhältnis zur angebotenen Leistung zu beurteilen und dafür alle maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen hat (u. a. EuGH, Urteil vom 29. März 2012, SAG ELV Slovensko u. a., C‑599/10, Rn. 29 und 30). Daraus leitet der EuGH eine generelle Pflicht des öffentlichen Auftraggebers ab, ungewöhnlich niedrige Angebote zu identifizieren, die betroffenen Bieter zur Aufklärung aufzufordern und auf dieser Grundlage eine Entscheidung über den Ausschluss dieser Angebote zu treffen. Für die Identifizierung ungewöhnlich niedriger Angebote sei ein Vergleich mit den übrigen Angeboten zwar hilfreich, könne aber nicht das einzige heranzuziehende Kriterium darstellen. Maßgeblich sei vielmehr eine Berücksichtigung sämtlicher Gesichtspunkte des konkreten Vergabeverfahrens, wobei es keinen Unterschied mache, wenn nur zwei Angebote eingegangen seien.
Hinsichtlich der Überprüfbarkeit der Vorgehensweise im Nachprüfungsverfahren schließlich führt der EuGH aus, dass es aus dem Richtlinienrecht, hier Art. 55 Abs. 2 RL 2009/81/EG, und aus Art. 47 GRCh folge, dass die Beurteilung des öffentlichen Auftraggebers darüber, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig sei, der gerichtlichen Nachprüfung unterliege. Bieter könnten also ein Nachprüfungsverfahren mit dem Vorbringen anstrengen, dass das für den Zuschlag vorgesehene Angebot als ungewöhnlich niedrig hätte eingestuft werden müssen. Allein der Umstand, dass der Auftraggeber keine ausdrückliche und begründete Entscheidung darüber getroffen habe, dass keine Angebote als ungewöhnlich niedrig anzusehen seien, führe aber noch nicht zur Nichtigerklärung des Vergabeverfahrens. Habe der Auftraggeber ein Angebot als ungewöhnlich niedrig eingestuft, sei er dazu verpflichtet, als Ergebnis der kontradiktorischen Prüfung förmlich eine begründete Entscheidung über die Zulassung dieses Angebots zu treffen.
Für Auftraggeber bedeutet die Entscheidung, dass sie die Prüfung auf Vorliegen ungewöhnlich niedriger Angebote nicht stets auf einen Vergleich der Angebotspreise beschränken dürfen. Vielmehr muss unabhängig von der Zahl der eingegangenen Angebote anhand aller maßgeblichen Gesichtspunkte geprüft werden, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist. Im Nachprüfungsverfahren kann die Beurteilung des Auftraggebers darüber, ein Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig einzustufen und dementsprechend keiner genaueren Prüfung zu unterziehen, überprüft werden.