Kann ein ausgeschlossener Bieter mittels eines Nachprüfungsantrags die Überprüfung des einzigen noch im Verfahren verbleibenden Angebots verlangen? Der EuGH hat die Frage in einem aktuellen Urteil bejaht und damit seine Rechtsprechung aus den Entscheidungen Fastweb I (Urt. v. 4. Juli 2013, Rs. C-100/12) und Technische Gebäudebetreuung und Caverion Österreich (Urt. v. 21. Dezember 2016, Rs. C-355/15) fortgeschrieben. Das Urteil betraf ein Vorabentscheidungsersuchen der polnischen Nationalen Beschwerdekammer, dem ein Vergabeverfahren über die Digitalisierung eines geologischen Archivs zugrunde lag. Im Verfahren gingen lediglich zwei Angebote ein, von denen eines wegen Nichterfüllung der Vorgaben des Auftraggebers ausgeschlossen wurde. Der unterlegene Bieter wandte sich einerseits gegen den Ausschluß des eigenen Angebots, andererseits gegen den Zuschlag auf das Angebot des Konkurrenten.
Neben Fragen zur Zulässigkeit der nachträglichen Angebotskorrektur – der unterlegene Bieter hatte nach Angebotsabgabe eine geänderte Arbeitsprobe nachgereicht – legte das polnische Gericht dem EuGH die Frage der Antragsbefugnis des ausgeschlossenen Bieters hinsichtlich des Zuschlags auf das Konkurrenzangebot zur Beantwortung vor. Der EuGH bejahte diese Frage, und zwar unabhängig davon, ob der Ausschluß des eigenen Angebots des Antragstellers zu Recht erfolgte. Aus der Fastweb-I-Entscheidung folgt bereits, daß die Rechtsmittelrichtlinie (RL 89/665/EEG i. d. F. d. RL 2007/66/EG) einem Bieter auch die Befugnis (in der Terminologie des EuGH: das berechtigte Interesse) verleiht, den Ausschluß nicht ordnungsgemäßer Konkurrenzangebote zu verlangen. Diese Überlegung hat der EuGH nun dahingehend erweitert, daß dieser Anspruch auch dann besteht, wenn durch den angestrebten Ausschluß der Konkurrenzangebote überhaupt kein zuschlagsfähiges Angebot mehr vorliegt, so daß der Auftraggeber bei fortbestehendem Beschaffungsbedarf ein neues Vergabeverfahren einleiten muß. Das Interesse an einem bestimmten Auftrag als Teil der Antragsbefugnis (im konkreten Fall maßgeblich: Art. 1 Abs. 3 RL 92/13/EG) kann sich daher auch auf einen Auftrag beziehen, der erst in einem künftigen Verfahren vergeben wird. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Technische Gebäudebetreuung und Caverion steht dem nicht entgegen, da sie sich auf einen Fall bezog, in dem der Ausschluß des Antragstellers bereits endgültig war; in dieser Konstellation kann der Bieter den Ausschluß eines noch im Verfahren verbleibenden Konkurrenzangebots nicht mehr verlangen.
Aus der Sicht des deutschen Vergaberechts ist die Entscheidung nicht überraschend. Der BGH hat bereits in der Polizeianzüge-Entscheidung klargestellt, daß ein Bieter auch dann antragsbefugt ist, wenn alle anderen Angebote fehlerhaft sind, so daß als Folge des Nachprüfungsverfahrens die Aufhebung des Vergabeverfahrens in Betracht kommt. Das gilt unabhängig davon, ob das eigene Angebot des Antragstellers zuschlagsfähig ist oder nicht (BGH, Beschl. v. 26. September 2006, X ZB 14/06). Die zweite Chance, die in einer Neueinleitung des Vergabeverfahrens liegt, genügt daher zur Bejahung der Antragsbefugnis. Mit dem jetzt ergangenen Urteil des EuGH stimmt diese Sichtweise überein.