OLG Koblenz: Auftragswertschätzung muss ordnungsgemäß sein

Eine aktuelle Entscheidung des OLG Koblenz verdeutlicht die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Auftragswertschätzung gemäß § 3 VgV. Die Entscheidung betraf die Vergabe eines Auftrags über die Verwertung u. a. von Altpapier. Die vom Auftraggeber, einem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger, durchgeführte Auftragswertschätzung ergab, dass der Wert des Auftrags unterhalb des Schwellenwerts nach § 106 GWB für die Durchführung eines EU-weiten Vergabeverfahrens nach den Bestimmungen des Teils 4 des GWB lag. Der Auftraggeber vergab den Auftrag daher im Wege einer beschränkten Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb nach § 3 Abs. 4 VOL/A. Eine Bekanntmachung im Supplement zum Amtsblatt der EU veröffentlichte er nicht. Stattdessen kontaktierte er fünf Unternehmen und forderte diese zur Abgabe eines Angebots auf. Nach Abschluss des Vertrages mit einem der Bieter wandte sich eines der nicht zum Zuge gekommenen Unternehmen  mit einem Nachprüfungsantrag an die Vergabekammer. Der Antragsteller machte geltend, die Auftragswertschätzung sei fehlerhaft. Der Auftrag überschreite den maßgeblichen Schwellenwert. Der Auftraggeber hätte ein EU-weites Vergabeverfahren durchführen müssen, so dass der geschlossene Vertrag unwirksam sei.

Der Nachprüfungsantrag hatte vor der Vergabekammer Rheinland-Pfalz Erfolg. Die Vergabekammer stellte die Unwirksamkeit des geschlossenen Vertrages fest. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Auftraggebers zum OLG Koblenz blieb erfolglos.

Nach der Auffassung des OLG Koblenz war der Nachprüfungsantrag zulässig. Der Schwellenwert gemäß § 106 GWB für die Anwendung des EU-Vergaberechts sei überschritten. Hierfür sei zunächst auf die Auftragswertschätzung des öffentlichen Auftraggebers gemäß § 3 VgV abzustellen. Bei der Auftragswertschätzung handele es sich um eine Prognose, bei der dem Auftraggeber ein gewisser Spielraum zukomme. Im Nachprüfungsverfahren könne die Auftragswertschätzung jedoch auf Nachvollziehbarkeit und Plausibilität geprüft werden. Maßgeblich sei, ob die Auftragswertschätzung, bezogen auf den Zeitpunkt bei Einleitung des Vergabeverfahrens, methodisch korrekt auf der Grundlage einer sorgfältigen Prüfung der Marktgegebenheiten und der geplanten Vergabe erstellt worden sei.

Ausgehend hiervon fehlte es nach der Auffassung des OLG Koblenz an einer korrekten Auftragswertschätzung. Der Auftraggeber hatte im Rahmen seiner Auftragswertschätzung für einen wesentlichen Teil der anzubietenden Preise, die sog. Handlingkosten für das zu verwertende Altpapier, lediglich die Beträge angesetzt, die in den Vorjahren dafür entrichtet worden waren. Tatsächlich hatte sich aber der Marktpreis für Papier stark verändert, so dass davon auszugehen war, dass die Handlingkosten steigen würden. Es war nach der Auffassung des Gerichts zu erwarten , dass die Bieter in Zukunft ihren Gewinn auch über die Handlingkosten erwirtschaften würden.  Zudem hatte sich der frühere Ansatz der Handlingkosten in einem offenen Verfahren eingestellt, während der Auftrag jetzt in einem beschränkten Verfahren ohne Teilnahmewettbewerb und damit zu einem tendenziell höheren Preis vergeben werden sollte. Die Auftragswertschätzung des Auftraggebers berücksichtigte diese Umstände nicht. Das OLG Koblenz hielt die Auftragswertschätzung deshalb für fehlerhaft und nicht verwendbar. Die von der Vergabekammer als Folge dieses Fehlers selbst angestellte und vom OLG Koblenz gebilligte Auftragswertschätzung führte zu einem Auftragswert, der oberhalb des Schwellenwerts gemäß § 106 GWB lag.

Da ferner in der hiesigen Verfahrenssituation gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB keine Rügeobliegenheit bestand und der Antragsteller auch geltend machen konnte, durch eine zu kurz bemessene Angebotsfrist auf Grund der unterlassenen Anwendung des EU-Vergaberechts einen Schaden erlitten zu haben, folgte daraus die Feststellung, dass der geschlossene Vertrag unwirksam war. Der Auftraggeber ist nun bei fortbestehender Beschaffungsabsicht gehalten, auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Auftragswertschätzung den Auftrag in Anwendung eines Verfahrens nach den Bestimmungen des EU-Vergaberechts zu vergeben.

Die Entscheidung zeigt detailliert die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Auftragswertschätzung auf. Fehler in diesem frühen Stadium des Vergabeverfahrens können das gesamte Verfahren gefährden. Dies gilt sogar dann, wenn sich ein Unternehmen, das selbst an dem Vergabeverfahren beteiligt wurde, nach Erteilung des Zuschlags gegen die Auftragswertschätzung wendet.

OLG Koblenz, Beschl. v. 1. September 2021, Verg 1/21

 

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